Beherrschung unserer Triebe

1. Der Stufe der Heiligkeit kommen wir um so näher, je mehr wir die von Gott uns anerschaffenen Triebe zu beherrschen vermögen, dass sie nicht zu Begierden und Gelüsten, zu Neigungen und Leidenschaften erstarken, über welche wir dann nur schwer Herr werden könnten. Darum spricht Gott im zehnten Wort vom Sinai: Du sollst nicht begehren! Du sollst nicht gelüsten!

2. Nach der Überlieferung unserer Weisen s.A. übertritt das Verbot des Begehrens derjenige, der irgend einen Gegenstand, den ein anderer besitzt und nicht gerne hergeben möchte, durch Drängen und Zureden an sich bringt, wenn er auch die reichlichste Bezahlung dafür leistet. Doch noch Höheres fordert die Tora durch das Verbot des Gelüstens; dieses übertritt derjenige, der in seinem Herzen auch nur dem Wunsch Raum gibt, er möchte eines anderen Eigentum in seinen Besitz bringen, wenn er auch gar nichts tut, um es wirklich zu erlangen.

3. Im Gefolge des Begehrens und Gelüstens sind noch viele andere Sünden, vor welchen die heiligen Schriften und unsere Weisen s.A. uns eindringlich warnen.

Nicht jeder ist dahin zu bringen, dass er sein Eigentum andern überläßt, selbst nicht gegen Bezahlung (Nabot). Manche Besitztü­mer, wie körperliche oder geistige Vorzüge, können ihrem Wesen nach gar nicht veräußert werden. Wird die Begierde nach solch unerreichbarem Gute nicht bei ihrem Entstehen unterdrückt, so verwandelt sie sich leicht in Mißgunst und Neid  (Kin`ah), welche, wie die Beispiele Kajins, der Brüder Josephs, der Könige Saul und Achab beweisen, zu vielen Sünden führen und demjenigen, der sie im Herzen trägt, alle Lebensfreuden, zuletzt Gesundheit und Leben rauben. Darum will die Tora, dass wir keine Begierden entstehen lassen.

4. Die Verbote des Begehrens und Gelüstens beziehen sich zunächst auf den Besitz eines Nebenmenschen; wir sollen jedoch auch nicht nach anderen verbotenen Dingen gelüsten, denn dem Gelüsten folgt leicht das Begehren, und von diesem ist nur ein schmaler Schritt zum sündhaften Genuß. Ja selbst ganz erlaubten Genuß und Besitz sollen wir nicht über das Maß des Bedürfnisses hinaus erstreben, denn solches Streben  steigert sich leicht zu Habsucht und Geiz, zu Genußsucht und Wollust. In einem Herzen aber, in welchem diese Leidenschaften wohnen, kann Heiligkeit (Keduscha) nicht aufkommen, denn nur Genügsamkeit und Enthalsamkeit führen zu ihr.

5. Ein Trieb unseres Herzens bedarf ganz besonders der Überwachung, jener nämlich, der uns antreibt, danach zu streben, dass unsere Nebenmenschen uns besonderes Wertschätzung zuteil werden lassen, uns ehren (Ehrtrieb). In seinen Anfängen ist dieser Trieb, wie jeder andere, gut, indem er imstande ist, uns zu edlem Streben anzuspornen. Wird er aber nicht überwacht, so führt er bald dahin, dass wir das Gute nur der Ehre willen tun; das ist aber als Anfang der Heuchelei schon verwerflich. Entsteht gar ein Gelüsten, ein Begehren nach Ehre (Ehrgeiz) in uns, so sind wir, wie Geschichte und Erfahrung zeigen, in Gefahr, viele Sünden zu begehen. Darum warnen unsere Weisen s.A. vor den drei genannten Leidenschaften: Neid kn’a, Genußsucht  und Ehrgeiz kawod, indem sie sagen, diese drei stürzen den Menschen ins Verderben.

6. In seiner höchsten, verwerflichsten Entartung erscheint der Ehrtrieb als Stolz und Hochmut, welche uns die Tora verbie­tet. ‑ „Stolz“ nennen wir die Denk‑ und Handlungsweise eines Menschen, der seinen eigenen Wert dermaßen hochschätzt, dass er nicht nur seine Mitmenschen geringschätzt und verachtet, sondern auch Gott die Ehre versagt, indem er sich selbst als den Urheber dessen betrachtet, worauf er glaubt, stolz sein zu dürfen. ‑ Vor dieser verwerflichen Denkweise, die der Gottesleugnung sehr nahe steht, schützen wir uns am besten durch den Gedanken, dass alles, was wir sind und haben, Gottes Gabe und Fügung ist, dass mensch­lichr Fleiß, menschliches Streben nichts ist ohne Gott, dass wir selbst das Gute, das wir tun, ummöglich verrichten könnten, ohne die von Gott uns verliehenen Mittel; endlich aber, dass alles, was wir Gutes tun, nur gering und wenig ist gegen das, wozu wir verpflichtet sind. ‑ Die dem Stolze entgegengesetzte Denkweise nennen wir Demut (anawa), die Tugend, welche die Tora besonders unserem Lehrer Moses s.A. nachrühmt, und welche unsere Weisen dem berühmten Tanna Hillel s.A. nachrühmen. Den Stolz müssen wir bis zur äußersten Grenze fliehen, die Demut aber, als die Mutter aller wahren Frömmigkeit, in uns pflegen.

7. Die Demut, welche alles duldet, alles trägt, ist eine Eigenschaft, die unser Inneres vor jener Aufregung bewahrt, in welcher wir aufhören vernünftig zu denken, menschlich zu fühlen und fähig zu werden, die schwersten Sünden zu begehen, nämlich vor dem Zorne. Den Zorn müssen wir meiden bis zu seiner äußersten Grenze, er richtet Leib und Seele zugrunde. Unsere Weisen s.A. lehren: Zürne nicht, so wirst du nicht sündigen.‑ Wer von seinem Zorn sich hinreißen läßt, etwas zu zerreißen oder zu zerbrechen, den betrachte als fähig, Götzen zu verehren. Wer nicht zürnt, wird von Gott geliebt. Der Zorn ist eines der Hin­dernisse, welche dem Sünder die Rückkehr zu Gott erschweren.

Du sollst nicht erlüsten das Weib deines Nächsten. Du sollst nicht erlüsten das Haus deines Nächsten, noch sein Feld, seinen Knecht, seine Magd, seinen Ochsen, seinen Esel, noch irgend, was deines Nächsten ist. 5. Mos. 5, 18. 2. Mos. 20,14.

Den Narren bringt Zorn um, und den Toren tötet der Neid. Ijob 5,2. 

Grausam ist der Zorn, überwältigend der Grimm, und wer vermag zu bestehen wider den Neid. Sp. Sal. 27,4. 

Wer Geld liebt, wird Geldes nicht satt, wer Überfluß liebt, wird nicht Vorteil davon haben. Pred. Sal. 5,9. 

Du könntest essen und dich sättigen, schöne Häuser bauen und bewohnen; deine Rinder und Schafe könnten sich vermehren. Silber und Gold sich dir vermehren, und alles, was du hast, sich vermeh­ren; dann könnte hochmütig werden dein Herz und du könntest Gottes, deines Gottes vergessen…. und in deinem Herzen spre­chen: meine Kraft und die Macht meiner Hand hat mir dieses Vermö­gen geschaffen. Bleibe darum eingedenk Gottes, deines Gottes, dass er es ist, der dir Kraft gibt, Vermögen zu schaffen. 5. Mos. 8, 12‑18 

Vor dem Falle ‑ Stolz, vor dem Sturze ‑ Hochmut; besser gebeugten Gemütes bei Demütigen, als Gewinn teilen bei Stolzen. Spr. Sal. 16, 18.19. 

Laß dein Gemüt nicht schnell zürnen, der Zorn wohnt nur im Busen der Toren. Pred. Sal. 7,9.

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