Das Neujahrsfest

1. Geschichtliche Veranlassung. Der Tag der Erinnerung oder das Neujahrsfest bildet mit dem ihm folgenden Versöhnungstag und den zwischen beiden  liegenden Tagen eine Einheit, die auch unter der gemeinschaftlichen Benennung: die zehn Bußtage (asseret j’mi t’schuwa) zusammengefaßt wird; darum gilt die geschichtliche Veranlassung zum Versöhnungstag auch für Rosch Haschana. Diese Veranlassung ist folgende:

Israel hatte der Erlösung aus Ägypten und des am Sinai mit Gott beschlossenen Bundes bald vergessen und die größte Verirrung in seiner ganzen Geschichte begangen, indem es das goldene Kalb gemacht und verehrt hatte. Dadurch war es der Vernichtung schul­dig geworden. Moses weilte aber  noch zweimal vierzig Tage vor Gott und flehte für sein Volk um Vergebung dieser schweren Sünde. Unsere Weisen s.A. weisen aus der Tora nach, dass die letzten vierzig Tage mit dem ersten Tag des Monats Elul anfingen und mit dem zehmten Tag des Monats Tischri endigten; an diesem Tage sprach Gott zu Moses das trostreiche Wort Slichati = ich habe vergeben. Darum setzte Gott diesen Tag für ewige Zeiten als Versöhnungstag für Israel ein und bestimmte die neun vorangehenden Tage des Monats Tischri mit Rosch Haschana an der Spitze zur Vorbereitung für den Versöhnungstag.

2. Die besondere Festvorschrift, die wir am Rosch Haschana zu beobachten haben, läßt uns die Bedeutung des Festes deutlich erkennen.

Die Tora gebietet uns nämlich, an diesem Feste gewisse, durch die mündliche Überlieferung näher bestimmte Töne eines aus einem Widderhorn gefertigten Instrumentes (Schofar) zu hören. Wenn das Fest auf einen Sabbat fällt unterbleibt das Blasen des Schofars, damit nicht veranlaßt werde, dass das Instrument nötigenfalls von einem Besitzkreis in den anderen getragen werde (56.39); am Sabbat wird darum das Schofar nur im Gebete erwähnt. Zufälliges Hören genügt nicht; der Blasende sowohl als der Hörer müssen gegenseitig die Absicht haben, dass durch dieses Blasen und Anhö­ren die Vorschrift der Tora erfüllt werden soll. Der Blasende muß stehen, und bei den Tönen, die während des Mußafgebetes geblasen werden, auch der Hörer. Wir sollen die Schofartöne mit Beherzi­gung des tiefen Sinnes anhören, welcher darin liegt.

3. Die Bedeutung des Schofars und dieses Festes ergibt sich aus verschiedenen Schriftstellen und aus den Namen des Festes; es heißt:

a. Tag der Erinnerung, Jom hasicharon; es erinnert uns durch das Widderhorn an den Gehorsam unseres Stammvaters Abraham, der bereit war, seinen einzigen Sohn Gott zu opfern; es erinnert uns ferner an die unter Schofartönen am Sinai geoffenbarte Tora; es lenkt endlich unseren Blick in die Zukunft und erinnert uns an die Verheißung, dass Israel einst, wenn der Zweck seiner Zerstreu­ung an ihm selbst und an der Menschheit erfüllt ist, durch Scho­fartöne wieder versammelt und vereinigt werden wird. Nach den Worten des Propheten: „An jenem Tage wird mit dem großen Schofar geblasen werden; da werden kommen, die da verloren sind im Land Aschur und die verstoßen sind im Lande Ägypten, und werden Gott anbeten auf dem heiligen Berge in Jerusalem“ (Jes.27,13) Wenn wir uns aber sagen müssen dass wir das alles nicht immer beherzigt haben, so ist dieses Fest

b. Tag der Erschütterung Jom T`ruah. Die im Altertum allgemein bekannte Bestimmung des Schofars war, zu erwecken, zu erschüt­tern, vor Gefahr zu warnen, wie die Propheten sagen: „so man das Schofar bläst in der Stadt, sollte da das Volk nicht erschrecken?“ (Amos 3,6). „Wer den Schall des Schofars hört und läßt sich nicht warnen, und das Schwert kommt und rafft ihn hin, der hat sein eigen Blut verschuldet, weil er den Schall des Schofars gehört hat und sich nicht warnen ließ.“ (Jech 33, 4‑5). Auch uns sollen die Schofartöne erschüttern bei dem Gedanken an unsere Sünden und warnen vor der Gefahr die uns durch sie be­droht; das Fest ist ferner

c. Tag des Gerichts Jom haDin. Nach der Überlieferung unserer Weisen s.A. richtet Gott an diesem Tag alle Sterblichen und ent­scheidet am Versöhnungstag endgültig über ihr Geschick, über Leben und Tod, über Heil und Unheil, je nachdem sie sich bessern oder verstockt bleiben. Die Schofartöne rufen uns mit dem Prophe­ten (Zeph. 1, 12‑18) zu: „Es naht der Tag Gottes, der große, er naht und kommt sehr schnell heran, ein Tag der Not und Bedrängnis ein Tag der Dunkelheit und der  Finsternis, ein Tag des Schofar‑ und Lärmblasens für die, die auf ihr Gold und Silber vertrauen und wähnen, Gott belohne nicht die Guten, bestrafe nicht die Bösen.“ Endlich ist dieses Fest

d. Anfang des neuen Jahres Rosch Haschana. Obwohl wir in bezug auf die Reihenfolge der Feste Nissan als den ersten Monat zählen, so ist für uns doch der 1. Tischri der Anfang des bürgerlichen Jahres, nach welchem wir die Jahre seit der Weltschöpfung rech­nen. Auch diese Bedeutung des Festes bringen die Schofartöne zum Ausdruck. Diese galten den Vätern als ein dem König dargebrachter Huldigungsruf, wie es heißt (1.Kön. 1,34): „Blaset mit dem Scho­far und rufet: Es lebe der König!“ Auch wir huldign durch die Schofartöne am Anfang des Jahres aufs neue dem bei allem Wechsel der Zeiten ewigen und unwandelbaren Schöpfer und Regierer der Welt.

4. Diese durch das Schofar ausgedrückte Bedeutung des Festes sprechen wir auch in dem erhabensten unserer Gebete, im Mußaf aus: Huldigung Malkiot, Erinnerung Sikaron, Erschütterung Schufrot. Wer diese Bedeutung beachtet, wird gewiß die mit dem Fest beginnenden zehn Bußtage benutzen, um sich durch Besserung seines Wandels (T’schuwa), durch andächtiges Gebet T’filla) und durch Wohltätigkeit und Almosen (Zedika) auf den Versöhnungstag würdig vorzubereiten.

5. Trotz der ernsten Bedeutung dieses Festes dürfen wir uns an demselben keiner Trauer, keiner betrübten Stimmung hingeben, müssen es vielmehr wie jedes andere Fest durch Kleider und Mahl ehren und auszeichnen und sollen auf den Allbarmherzigen vertrau­en, der dem Bußfertigen Sündenvergebung verheißen hat. Es besteht der Gebrauch, am ersten, und wenn dieser auf einen Sabbat fällt, am zweiten Tag nach dem Minchagebet an einen Bach oder Fluß, worin Fische sich befinden, zu gehen und dort mit Micha 7, 18‑20 zu beten, Gott möge unsere Sünden in die Fluten des Meeres ver­senken (Tischlich). Das Wasser dürfte die Flüchtigkeit unseres Daseins versinnbildlichen (2. Sam. 14,14), während die Fische uns an den Jakobssegen (1. Mos. 48,16) erinnern und das Bild Israels vor Augen führen, Israels, nach welchem die Netze des Verderbens schon so oft ausgeworfen wurden, ohne dass es gelungen ist, ihm beizukommen.

6. Es ist allenthalben in Israel Gebrauch, schon während des ganzen Monats Elul morgens und abends im Gotteshause durch Scho­fartöne das Herannahmen der Bußzeit anzukündigen, und nicht nur während der Bußtage sondern schon eine Woche vor Rosch Haschana, oder wenn dieses Fest auf den fünften Wochentag fällt, vom voran­gehenden ersten Wochentage an, vor Tagesanbruch sich im Gottes­haus zu versammeln um Bußgebete (Slichot) zu verrichten. Einzelne Personen fasten auch an manchen dieser Tage, namentlich am Rüst­tage zum Neujahrsfest. am Rüsttag zum Versöhnungstag ist aber das Fasten verboten und bessere und reichlichere Mahlzeit vorgeschrieben. Bei der Übung des uralten Gebrauchs der Kaporet muß der Gedanke, diesel­ben seien eine Art Opfer, welchen man außerhalbs Israels vielfach darin suchen wollte, fern gehalten werden. Die Darbringung eines Opfers außerhalb des Tempels auf Zion ist uns strengstens verbo­ten (39,2). Die geschlachteten Vögel oder deren Geldwert sollen den Armen gespendet werden.

Im siebenten Monate, am ersten des Monats soll bei euch Werkein­stellung sein, Erinnerung durch Lärmblasen, Berufung zum Heilig­tum. 3. Mos. 23. 24.

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