Die fünf allgemeinen Fasttage

Die folgenden fünf Tage sind zur Erinnerung an schwere nationale Heimsuchungen als allgemeine Fasttage eingesetzt, und zwar die vier zuerst bezeichneten schon seit der Zeit der Propheten.

1. Der zehnte Tevet (Assara be Tevet). An diesem Tag begann zur Zeit des ersten Tempels das Strafgericht Gottes an Israel sich zu vollziehen, weil sie seine Tora verlassen, seine Propheten ver­höhnt und mißhandelt hatten; denn an diesem Tage begann Nebuchad­nezar, König von Babylon, Jerusalem zu belagern und durch Wälle einzuschließen, was endlich zum Untergang der Stadt und des Tempels führte. 2. Kön. 25,1.

2. Der siebzehnte Tamus (schiwa asar be Tamus). Zur Zeit des ersten Tmpels drangen die belagernden Babylonier am 9. Tamus in die Stadt Jerusalem. (Jerm. 39, 2; 52, 6). Zur Zeit des zweiten Tempels geschah dasselbe durch die Römer am 17. Tamus. Da das letztere Ereignis uns näher liget, so begehen wir an diesem Tag die beiden traurigen Ereignisse durch einen allgemeinen Fasten­tag. Auch durch andere schwere Schläge wurde Israel an diesem Tag heimgsucht; er ist überdies der Tag, an welchem Moses bei seiner Rückkehr vom Sinai Israel um das goldene Kalb tanzend antraf und in heiligem Zorn die Bundestafeln zerbrach.

3. Der neunte Aw (Tisch’a be Aw). Sowohl der erste als auch der zweite Tempel wurden am 9. (und 10.) Aw zerstört und verbrannt (Jer. 52, 12‑30.) Mit der Zerstörung des ersten Tempels beginnt die Zerstreuung Israels; denn die Rückkehr aus Babylon war keine vollständige. Infolge der Zerstörung des zweiten Tempels dehnte sich die Zerstreuung immer mehr aus und brachen

unzählbare Leiden über Israel herein. Doch ist es das nicht allein, was wir an diesem Tag betrauern, sondern auch das, dass dieses alles die Sünden unserer Väter veranlaßt haben, und dass wir in der Zer­streuung einen großen Teil der Gebote der Tora gar nicht, andere nur unvollkommen und unter Hindernissen erfüllen können. Darum ist der neunte Aw der strengste dieser Fassttag und ein Tag tiefer Trauer für Israel.

4. Der dritte Tischri. dieser Tag soll uns an die traurigen Ereignisse erinnern, welche im 2. Buch der Könige 25, 22‑26 und beim Propheten Jeremia 39, 6 bis Kapitel 42 erzählt werden. Nebuchadnezar setzte über den kleinen Rest des Volkes, den er nach der Zerstörung des Tempels im Lande gelassen hatte, einen frommen Mann, Gedalja, als Statthalter ein; auch Jirmija blieb im Lande, schloß sich Gedalja an und ermunterte die Zurückgebliebenen eindringlich, im Lande zu blei­ben und treue Untertanen ihres jetzigen rechtmäßigen Herrn, des Königs von Babylon, zu sein. Am 1. Tischri kam aber eine verruch­te Rotte von Aufrührern, Jismael ben Netanja an ihrer Spitze, und ermordete meuchlings Gedalja und alle bei ihm sich aufhaltenden Juden und Chaldäer; dann schleppten sie den Rest der noch vor­handenen Juden mit Jirmija nach Ägypten, wo sie trotz der Ermah­nungen des Propheten Götzendienst trieben. Außerdem ist dieser Tag der erste der zehn Bußtage (63,4), an welchem zu fasten gestattet ist.

5. Der dreizehnte Adar (Taanit Ester). An diesem Tag sollten einst nach dem Ratschlusse Hamans alle Juden des persischen Rei­ches, also fast alle damals lebenden Juden, vertilgt werden; Gott aber stand ihnen bei und rettete sie. Zur Erinnerung an diese Gefahr und Rettung begehen wir diesen Tag als Fasttag, den fol­genden als Freudentag.

Also spricht Gott Zebaoth: Der Fasttag im vierten, der Fasttag im fünften, der Fasttag im siebenten und der Fasttag im zehnten Monat werden dem Hause Judas zu Wonne und Freude und zu guten Festtagen werden ‑ so ihr die Wahrheit und den Frieden liebet. Sech. 8,19.

Die Vorschriften über die Fasttage; freiwilliges Fasten

1. Für den 9. Aw ist uns außer der Werktätigkeit alles untersagt, was uns für den Versöhnungstag verboten ist. Das Fasten, wozu auch Kranke, für die dadurch keine Gefahr zu fürchtn ist, verpflichtet sind, hat wie am Versöhnungstag mindestens 13 1/2 Minuten vor dem Eintritt der Nacht zu beginnen. Außerdem ist uns für diesen Tag Trauer wie um einen nahen Verwandten vorgeschrie­ben, weshalb wir an demselben die unten dargestellten Trauervorschriften zu beobachten haben. Bis nach Mittag sollen alle Arbeiten unterbleiben, welche unsere Gedanken von der vorge­schriebenen Trauer abwenden könnten. Die drei Wochen vom 17. Tamus bis nach dem 9. Aw sind Halbtrauer­tage, an welchen man alles Erfreuende vermeiden muß, keine Hoch­zeit halten darf und Haupt‑ und Barthaare nicht scheren soll. Man spricht in diesen Tagen, außer an den dazwischen liegenden Sab­battagen, das Gebet Schehechejanu nicht, meidet darum Veranlas­sungen, bei welchen es zu sprechen wäre.

Noch strenger ist diese Halbtrauer geboten während der neun Tage vom Begin des Monats Aw bis nach dem Fasttag. Da ist außerdem selbst am Sabbat untersagt, neue Kleider anzulegen, und außer am Sabbat Fleisch und Wein zu genießen und frische Wäsche anzulegen; auch das Waschen oder zur Wäschegeben von Kleidern und Weißzeug ist verboten.

Am Rüsttag nimmt man die Hauptmahlzeit früher als gewöhnlich ein, denn bei der Schlußmahlzeit darf man nur (einsam auf dem Boden oder einem niederen Schemel sitzend) ein Gericht essen, wozu gewöhnlich ein Ei oder Brot verwendet wird.

Am Vorabend wird vor dem Nachtgebet der Vorhang von der heiligen Lade entfernt und erst beim Nachmittagsgebet des anderen Tages wieder vorgehängt. Nach dem Nachtgebet werden die Klagelieder Jirmijas und andere Trauergesänge vorgetragen. Beim Frühgottes­dienst liest man aus der Tora 5.Mos.4, 25‑40 und als Haftara Jirmija 8, 13 bis 9, 23; dann werden Trauergesänge vorgetragen und der Gottesdienst bis gegen Mittag ausgedehnt; Tallis und Tefillin werden erst beim Minchagebet angelegt. Bei diesem Gebet schaltet man auch das Gebet in die vierzehnte Benediktion des ein.

2. An den übrigen vier allgemeinen Fasttagen ist uns nur der Genuß von Speisen und Getränken von morgens vor Tagesanbruch bis zum Beginn der Nacht untersagt. Weitere Entbehrungen sind nicht vorgeschrieben.

An diesn Fasttagen wird morgens und abends aus der Tora 2.Mos. 32, 11‑14; 34 1‑10, abends eine Haftara Jesaja 55, 6 bis 56,8 vorgelesen. (Diese Abendvorlesung gilt auch für den 9. Aw.) Der Vorbeter schaltes das Gebet morgens und abends als besonde­re (achte) Benediktion, der einzelne nur beim Minchagebet in die sechzehnte Benediktion des ein; beim Morgengebet werden außerdem auf die Geschichte des Tages bezügliche Bußgebete (Slichot) in die sechste Benediktion einge­schaltet.

3.Je aufeinanderfolgend ein zweiter, fünfter und zweiter Wochen­tag (scheni we chameschi we scheni) am anfang des Monats Ijar und am Ende des Monats Marcheschwan sind insofern öffentliche Fasttage, als sie in der Synagoge am vorhergehenden Sabbat ange­kündigt und dass beim Morgengebet Bußgebete (Slichot) wie an den allgemeinen Fasttagen eingschaltet werden. Es ist jedoch an diesen Tagen niemand verpflichtet zu fasten, der es nicht frei­willig übernimmt; viele fasten nur Halbtage. Diese Tage wurden als Bußttage eingesetzt für den Fall, dass wir an den vorangegan­genen Festtagen, sei es durch verbotene Werktätigkeit, sei es dadurch uns versündigt haben, dass wir im Übermaß des Genusses uns sündhaften Gedanken hingegeben haben. (Vergleiche: Ijob 1,4,5.)

4. Der Zweck alles Fastens ist die Buße; unser Fasten sei ein tatsächliches Bekenntnis unserer Sünden, eine Übung im Kampf gegen die Sinnlichkeit, gegen Genuß‑ und Selbstsucht als Quellen der meisten Sünden. Darum gilt mit bußfertiger Absicht übernomme­nes freiwilliges Fasten als frommes Werk. Wer freiwillig fasten will, soll, um sich die Bußabsicht zum Bewußtsein zu bringen, den Fasttag am vorangehenden Abend beim Schluss des Minchagebetes durch das bekannte Gebet angeloben, doch genügt, wenn dieses versäumt worden, auch der vor Nacht gefaßte unausgesprochene Entschluß. Man soll sich seines Fastens nicht rühmen, sondern es, ohne es zu verleugnen, geheim zu halten suchen.

Für Personen, deren geistige oder leibliche Kräfte im Dienste anderer stehen, zum Beispiel für Lehrer, welche zu unterrichten, für Taglöhner, die zu arbeiten verpflichtet sind, ist freiwilligs Fasten Sünde. 

Eine Hauptsache bei allem Fasten ist die wahre, aufrichtige Besserung unseres Wandels; denn so heißt es von den bußfertigen Bewohnern Ninives nicht: Gott sah ihr Fasten, sondern: Gott sah ihre Handlungen, dass sie zurückgekehrt waren von ihrem bösen Wandel. Jona 3, 5‑10.

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